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Armutsgrenze
Mein Name ist Maria, ich bin 62 Jahre alt. Geboren bin ich in Spanien, aufgewachsen in Deutschland. Mein Leben ist ein ganz normales, gewöhnliches, wie das von vielen anderen Frauen meiner Generation: Schule, Ausbildung, Job, Heirat, drei Kinder. Zwei Söhne und eine Tochter. Sie sind großartig, jeder von Ihnen auf seine Weise. Vor mir liegt ein Lebensabschnitt über den ich am liebsten gar nicht nachdenken würde.
Worte: Maria Bordes
Foto & Video: Ricardo Wiesinger
Da gab es Träume und Sehnsüchte, aber nie eine klare Vorstellung davon, wie ich mein Leben leben wollte/sollte. Diese Frage stellte sich mir gar nicht. Ein Teil meiner Kindheit und meine ganze Jugend waren geprägt von der Krebserkrankung meiner Mutter. Sie hat den Krebs überlebt, aber der Weg dahin war sehr schwer für die ganze Familie. Diese Zeit hat mich von mir selbst abgeschnitten, wir waren so sehr mit unserem psychischen Überleben beschäftigt, dass ich nicht lernte, eigene Ziele und Wünsche zu entwickeln.
Das, was ich wusste war, dass ich Kinder haben wollte. Und insgeheim wollte ich gerne Sängerin werden, aber das war ein Wunsch, der sich meinem Bewusstsein über viele Jahre vollständig entzog.
Menschen treffen Entscheidungen, ob bewusst oder unbewusst. Es sind aber immer unsere Entscheidungen, die unser Leben formen und in irgendeine Richtung lenken. Oft erkennt man die Auswirkung dessen erst sehr viel später. Auch keine Entscheidung zu treffen ist letztendlich eine Entscheidung - nämlich dafür, die Kontrolle anderen zu überlassen.
Ich hatte mich dafür entschieden, meine Kinder selbst groß zu ziehen. Wäre es nach dem Willen meiner Schwiegereltern gegangen, hätten sie uns ein Kindermädchen bezahlt, damit ich voll in deren Geschäft mit einsteigen konnte. Das war für mich aber unvorstellbar, deshalb habe ich zwar mitgearbeitet, aber nur in Teilzeit. Sie hatten eine Metzgerei, ihr Name war damals stadtbekannt. Nach der Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin (meine zweite Ausbildung die ich meinem damaligen Mann zu liebe machte) habe ich für 600,- Deutsche Mark 6 Stunden am Tag mitgearbeitet. Meistens waren es dann doch 8 Stunden und viele Nächte. Mein Ex-Mann hat die Firma übernommen, ich habe genauso viel weiter verdient. Es wäre geschickter gewesen, uns beiden vernünftige Gehälter auszubezahlen, aber darüber haben wir nicht nachgedacht.
Als wir das Geschäft aufgeben mussten, sind wir nach Bayern gezogen in eine Doppelhaushälfte, die im Grunde viel zu teuer für uns war. Die ersten Jahre war ich nicht berufstätig. Da waren drei kleine Kinder, die mich brauchten und ein Mann, der morgens um 6 aus dem Haus ging und selten vor 19.30 Uhr nach Hause kam. Meine Kinder standen immer an erster Stelle, deren Wohlergehen war mir das Wichtigste. Meine Ehe war schwierig, ich hatte einen Mann geheiratet, der nicht beziehungsfähig war. Es war eine kräftezehrende Zeit.
Ich bin ein Beziehungsmensch. Beziehungen sind von zentraler Bedeutung für mich, mehr als Geld, eigenes Haus, Vermögen oder irgendwelche anderen materiellen Dinge. Viel habe ich nicht gebraucht. Es gab nie viele Freunde in meinem Leben, dafür einige wenige, die von Bedeutung für mich waren und immer noch sind. Musik war mir wichtig, sogar sehr.
Vermutlich war ich eine Romantikerin, die dachte, das Richtige würde schon passieren, wenn ich nur warten konnte. Heute weiß ich, dass es unsere Entscheidungen sind, von denen vieles abhängt. Meine Entscheidungen waren, aus heutiger Sicht betrachtet, nicht immer die klügsten.
So wie mir, ist es Millionen anderer Frauen meiner Generation gegangen. Wir haben geheiratet, haben Kinder bekommen und waren damit für den Arbeitsmarkt nicht mehr attraktiv. Und wenn wir wieder angefangen haben zu arbeiten, mussten wir uns mit niedrigen Gehältern zufrieden geben. Unsere Männer machten beruflich Karriere und keiner fragte danach, wie es mit der Familie zuhause war, wer sich darum kümmerte, dass alles weiter lief. Wir Frauen haben ihnen den Rücken freigehalten. Hat eine Frau so etwas getan, war sie eine schlechte Mutter und wurde von den eigenen Geschlechtsgenossinnen ausgegrenzt. Nicht von allen, aber von vielen. Das alles passierte nicht 1940 oder '50, sondern in den 1980'er, 90'er Jahren.
Der Feminismus propagierte die berufstätige Frau, die sich nicht abhängen ließ. Schöne Worte… alles andere als einfach umzusetzen. Denn egal wie frau es machte, irgendwer zeigte immer mit dem Finger auf uns. Wir waren stets die Schuldigen, wenn es mit den Kindern nicht rund lief. Gingen unsere Männer fremd, waren wir frigide und sorgten nicht dafür, die attraktive Geliebte zu sein. Waren wir berufstätig, durfte der Haushalt nicht darunter leiden, die Wäsche musste gewaschen, das Essen gekocht und das Haus immer sauber und ordentlich sein. Von unseren Männern durften wir nicht allzu viel Unterstützung erwarten. Weshalb letztlich meine Ehe in die Brüche ging. Ich war einfach nicht mehr bereit, in einer Beziehung zu bleiben, in der jegliches Gleichgewicht fehlte.
Ich war berufstätig. Einige Jahre - mit 42 habe ich mich von meinem Ex-Mann getrennt - bin ich Putzen gegangen, danach habe ich in einem Callcenter gearbeitet. Zuerst nur in Teilzeit, später in Vollzeit - für knapp 1.200,- Euro Netto im Monat. Oft habe ich darüber nachgedacht, mir einen zweiten Job zu suchen, aber das hätte ich nicht geschafft.
Manchmal habe ich mir vorgestellt, was passiert wäre, wenn ich Mitte der 80'er Jahre dem Rat eines Musikers gefolgt und nach Hamburg gegangen wäre, um eine Gesangsausbildung zu machen. Vielleicht wäre eine ganz passable Sängerin aus mir geworden, aber das ist reine Spekulation. Ich hatte Talent, daran bestand kein Zweifel. Aber die Entscheidungen, die ich traf haben mich auf einen anderen Weg geführt.
Ich bin nicht traurig und ich bereue nichts von alledem. Aber es macht mich wütend zu wissen, dass es so vielen Frauen so ergangen ist wie mir, und dass so viele von uns auf die Altersarmut zusteuern, weil wir Frauen sind. Altersarmut - oder das, was unsere Politik darunter versteht - ist viel mehr als zu wenig Geld zum Leben zu haben. Es betrifft nichts geringeres als unsere Würde.
Armut ist etwas, wovor ich mich fürchte, weil ich erlebt habe, was es heißt, Monat für Monat mein Bankkonto immer weiter ins Minus rutschen zu sehen, in dem klaren Bewusstsein, dass ich irgendwann mit dem Rücken zur Wand stehen würde. Glücklicherweise hatte ich Eltern, die mir immer wieder finanziell unter die Arme gegriffen haben. Nicht selten fehlte um den 20. des Monats genug Geld, um Lebensmittel einzukaufen. Mein Bankkonto war immer wieder am Limit, ich bekam kein Geld mehr ausgezahlt. Immer wieder wurde ich zur Bank zitiert, um meine finanzielle Lage zu besprechen. Irgendwann habe ich einen Kredit aufgenommen, um aus dem Minus zu kommen. Später muss ich den Kredit aus den selben Gründen aufstocken. Das war sicher besser als Überziehungszinsen zu zahlen, aber ich zahle immer noch zurück. Ich kann mit Worten das Gefühl nicht beschreiben, das mich ständig begleitete: Es saß in meinem Magen und schnürte mir den Hals zu. Ich litt unter Panikattacken. Im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend.
Wie kann es sein, dass alleinstehende Frauen im Alter über so wenig Geld verfügen, dass uns soziale Teilhabe verwehrt bleibt? Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft stillschweigend dabei zusieht, wenn Frauen, die berufstätig waren, Kinder großgezogen haben und aus Ehen ausgebrochen sind, die ihnen unerträglich geworden waren, im Alter von der Hand in den Mund leben müssen? Altersvorsorge kann sich nur leisten, wer das Geld dafür hat. Ich hatte es nicht und tausende andere Frauen genauso wenig. Es geht nicht einmal darum, jedes Jahr zwei Mal in Urlaub fahren zu können, sondern darum, dass nichts, aber auch gar nichts schief gehen darf. Eine neue Waschmaschine, wenn die alte nicht mehr funktioniert, kann zu einem schier unüberwindbaren Problem werden.
Die Kreativität, die Frauen in solchen Lebenssituationen entwickeln, ist großartig und bewundernswert. Gleichzeitig zeigt es aber auch die Armseligkeit einer Gesellschaft, die unfähig ist, ihren Frauen den verdienten Respekt zu zollen, in dem sie dafür sorgt, dass sie ein Leben in Würde führen können.
Oft denke ich, dass es anderen Frauen in anderen Teilen der Welt viel schlechter geht. Immerhin haben wir hier ein soziales System, das uns "auffängt". Dafür müssen wir dankbar sein. Oft denke ich, dass wir auf einem sehr hohen Niveau jammern, denn uns geht es in Deutschland so viel besser als Frauen der sogenannten dritten Welt.
Und in anderen Momenten denke ich, dass das nicht ausreicht, denn es geht um mehr als materielle Sicherheit. Es geht um die Anerkennung unserer Lebensleistung und den Anstand uns nicht unserer Würde zu berauben. Das betrifft uns Frauen überall. Wir bringen Töchter zur Welt in dem Wissen, dass es ihnen vielleicht einmal genauso ergehen wird. Es gibt keine Worte, die ausreichen, meine Wut darüber zu beschreiben. Wir können nicht auf das Verständnis und die Bereitschaft von Männern warten, die Umstände zu ändern, weil sie schlichtweg nicht verstehen, worüber wir sprechen.
Für meine Tochter wünsche ich mir eine gerechte Zukunft. Vielleicht wird sie eines Tages Kinder haben und wenn das der Fall ist, darf diese Entscheidung unter keinen Umständen dazu führen, dass sie später einmal, wenn sie in Rente geht, unter Armut zu leiden hat.
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