DIE PISTE
»Die Stadt ohne Namen ist gut versteckt. Kein Wegweiser führt hin. Am Ausgang von Borgo Mezzanone, einem Dorf, das Mussolini einst in die Felder Apuliens pflanzen ließ, verabschieden einen stattdessen Hakenkreuzschmierereien. Nach vier Kilometern geht es rechts auf eine schmale Teerstraße, die sich schon bald auflöst, so als wolle auch sie einen nicht weiterbringen. Bei Regen ist sie Matsch, bei Sonnenschein Staub. Und dann liegt sie plötzlich vor einem, schnurgerade in Richtung Horizont: die Piste. (...)«
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Titel am 26. Juli 2018, N° 171/2018
Text: David Klaubert
Die Piste an einem Sonntag Morgen. Im Zweiten Weltkrieg starteten hier Flugzeuge. Heute ist sie die Hauptstraße einer Stadt, die es offiziell nicht gibt. Sie hat 4000, 5000 Einwohner, vielleicht mehr. Keiner hat sie gezählt. Ende der neunziger Jahre errichtete Italien auf dem früheren Flugplatz eine Notunterkunft für Flüchtlinge aus dem Kosovo, daher die Wohncontainer und Ziegelhäuschen.
Eine fertiggestellte Hütte mit Stromanschluss kostet zwischen 100-150€. Hier leben bis zu 5 Männer gemeinsam zur Miete. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt bei 2-3€, sofern der Lohn ausgezahlt wird. Hinzu kommen die Kosten für ein Fahrrad um zu den Feldern zu gelangen (30-50€).
Die obersten Staatsanwälte Apuliens, Ludovico Vaccaro (links) und Francesco Diliso im Interview.
Cau, genannt Papa, mit 50 einer der ältesten und die gute Seele der Piste. Keiner ist so gut darin, schrottreife Fahrräder zu reparieren, wie er. Für die Fahrten über Feldwege kleidet er die Mäntel mit kaputten Schläuchen aus. Und auch für all die anderen Widrigkeiten des Lebens hat er gute Ratschläge.
Ein Bewohner der Piste hat sich die Europaflagge vor seine Hütte gehängt.
Nicola Gratteri, italienischer Staatsanwalt, bekannt für seine auf internationaler Ebene erfolgreichen Ermittlungen gegen die‘Ndrangheta. Er lebt seit 1989 unter permanentem Polizei- und Militärschutz.
"Wir lieben Italien wie die Italiener!", Sané, 25, aus Gambia. Fotografieren lassen will er sich, wie so viele auf der Piste, nicht. Er hat Angst, dass seine Familie sehen könnte, wie er hier lebt.
Sanés Hütte. Keine allzu gute Lage, vierte oder fünfte Reihe hinter der Piste, aber immerhin.
Antonella Di Modugno, Chefin des Arbeitsinspektorats in Foggia. Sie ist zuständig für die Einhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften.
Ein typisches Bild in Süditalien. Ein Erntehelfer auf dem Weg von den Feldern zurück ins Camp.
"La Passione Rossonera" steht über der Eingangstür. Hier wohnt ein Fan von AC Mailand. Viele der Neuankömmlinge träumen von einer Karriere als Profifussballer.
Was wie ein Haufen Sperrmüll aussieht ist für die Bewohner mehrere Wochen Lohn wert. Es wird nichts verschenkt.
Daniele Iacovelli, Gewerkschaftsführer von Flai-CGIL. Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen der Erntehelfer ist weitgehend hoffnungslos.
DUMMY Magazin #68, 2020.
»DIE PISTE«, 2018
"Die Stadt ohne Namen ist gut versteckt. Kein Wegweiser führt hin. Am Ausgang von Borgo Mezzanone, einem Dorf, das Mussolini einst in die Felder Apuliens pflanzen ließ, verabschieden einen stattdessen Hakenkreuzschmierereien. Nach vier Kilometern geht es rechts auf eine schmale Teerstraße, die sich schon bald auflöst, so als wolle auch sie einen nicht weiterbringen. Bei Regen ist sie Matsch, bei Sonnenschein Staub. Und dann liegt sie plötzlich vor einem, schnurgerade in Richtung Horizont: die Piste. (...)" → Text: David Klaubert, F.A.Z.
Mit dem Redakteur David Klaubert reiste ich zwei Wochen durch Apulien und Kalabrien. Um zu verstehen wie italienische und nigerianische Mafia Profit aus der illegalen Beschäftigung von Flüchtlingen in Erntearbeit und Prostitution schlagen, sprachen wir mit im Stich gelassenen Gewerkschaftern, sowie mit Staatsanwälten, die sich nicht mehr die Mühe machten ihre Machtlosigkeit gegenüber der organisierten Kriminalität zu verbergen. Außerdem verbrachten wir zwei Tage auf einem ehemaligen Flugplatz aus dem zweiten Weltkrieg. Heute ist dort Italiens größtes illegales Flüchtlingscamp. Unsere Reportage erschien 2018 als Titelgeschichte in der F.A.Z.